Virtual Reality arena for freely flying flies; Picture: https://strawlab.org/freemovr-press

Wie bei Star Trek

Biologen ermöglichen neue Experimente in der virtuellen Realität – Team um Konstanzer Biologen Prof. Dr. Iain Couzin trägt zur Lösung eines fundamentalen Problems der aktuellen Verhaltensforschung bei

Woran orientieren sich Menschen, wenn sie in einer neuen Gegend sind? Wie nutzen sie zum Beispiel Straßenschilder oder Häuser, um einzuschätzen, welche Distanz sie zurückgelegt haben? Und wie kommt es, dass manche Individuen eine führende Rolle in einer Gruppe einnehmen und andere Mitglieder einfach den gemeinsamen Bewegungen der Gruppe folgen? Mit Beteiligung von Prof. Dr. Iain Couzin von der Universität Konstanz und dem Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell untersuchen Neurowissenschaftlerinnen und -wissenschaftler solche Fragen bei Tieren, um Grundlagen des räumlichen Denkvermögens und kollektiven Verhaltens zu verstehen. Ein internationales Team hat eine Art Holodeck, ein Raum, der jede beliebige virtuelle Welt simulieren kann, nachgebaut und damit neue Möglichkeiten geschaffen, kollektives Verhalten zu erforschen. Die Tiere nahmen die dreidimensional simulierten Objekte als echt wahr und änderten ihr Verhalten in unterschiedlichen visuellen Umgebungen. Die Forschungsgruppe beschreibt ihre Ergebnisse in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsjournals „Nature Methods“.

„Bisher haben wir die Science-Fiction-Welt um eine Erfindung beneidet: ein Holodeck wie in der Fernsehserie Star Trek. Solch eine Umgebung erlaubt Experimente, die in der realen Welt nicht möglich sind – etwa die Bewegungen eines Tieres von seiner Wahrnehmung zu entkoppeln“, sagt der maßgeblich beteiligte Freiburger Biologe Prof. Dr. Andrew Straw. Tiere und Menschen nutzen alle Sinneseindrücke, um ihre mentale Karte zu aktualisieren. Jedoch ist jede ihrer Bewegungen untrennbar mit ihren Empfindungen verbunden. Die Forscherinnen und Forscher mussten also Bewegung und Empfindung voneinander lösen, um zu verstehen, wie das Gehirn unterschiedliche Informationen verarbeitet.

Die Gruppe baute ein flexibles System für Mäuse, Fliegen und Fische – drei Arten, die häufig in Experimenten der Neurobiologie und Verhaltensforschung zum Einsatz kommen. „Wir haben eine umfassende, dreidimensionale virtuelle Realität geschaffen, in der sich die Tiere frei bewegen können“, erklärt Straw. „Dadurch können wir die von uns vorbereitete visuelle Landschaft mit ihren Handlungen und Wahrnehmungen verbinden.“ Zu den visuellen Landschaften gehören zum Beispiel vertikale Säulen, verschiedene Pflanzen und andere Lebewesen. Mehrere Kameras verfolgen die genaue 3-D-Position des Tieres und nehmen sie auf. Ein Computerprogramm registriert jede Bewegung des Tieres innerhalb von Millisekunden, so dass eine reagierende, virtuelle Umwelt geschaffen werden konnte.

Die Forschenden testeten, ob Mäuse virtuelle Höhenangst haben, veränderten und kontrollierten mit visuellen Reizen die Flugrichtung von Fliegen und kreierten Experimente, in denen Fische sich virtuell zwischen zwei unterschiedlichen Welten bewegten und ihr Verhalten je nach visueller Umgebung änderten. 

Darüber hinaus konnte das Team mit den Versuchen ein fundamentales Problem in der aktuellen Verhaltensforschung lösen: Wie kommt es, dass Individuen eine führende Rolle übernehmen und andere einfache Gruppenmitglieder bleiben? Bisher war es nicht möglich, die Interaktion zwischen mehreren Individuen direkt zu manipulieren. Iain Couzin und Postdoktorand Dr. Renaud Bastien von der Universität Konstanz und dem Max-Planck-Institut für Ornithologie entwickelten einen fotorealistischen virtuellen Fisch, der in dynamischer Weise mit echten Fischen interagieren konnte. „Eine zentrale Herausforderung bei der Untersuchung von solchen interindividuellen Interaktionen ist, dass es oft schwierig oder sogar unmöglich ist festzustellen, wie soziale Rückkopplungen zwischen Organismen zu gruppeneigenen Eigenschaften führen,“ sagt Iain Couzin. „Die Veränderungen in der Struktur, Bewegung und Körperhaltung von unseren virtuellen Fischen sind äußerst realistisch. Dies erlaubte uns zum ersten Mal, frei im Becken virtuelle Fische sich mit echten Individuen bewegen zu lassen.“

Die Konstanzer konnten so herausfinden, wie sich Individuen zu Anführern innerhalb der Gruppe entwickeln und wie Individuen andere am besten beeinflussen können. „Virtuelle Realität hat das Potenzial, ein unentbehrliches Instrument für die Untersuchung von sozialen Interaktionen und kollektivem Verhalten zu werden“, erklärt Couzin. „Als nächstes werden wir fünf Virtual Reality-Systeme miteinander verbinden – was wir ‚Das Matrix-Experiment‘ nennen –, so dass mehrere echte Fische die gleiche virtuelle Welt bewohnen können. Dies wird uns einmalige Einblicke in die soziale Welt dieser Tiere ermöglichen und die Prinzipien, die dem kollektiven Verhalten zugrunde liegen, offenlegen.“

Originalveröffentlichung:

John R Stowers, Maximilian Hofbauer, Renaud Bastien, Johannes Griessner, Peter Higgins, Sarfarazhussain Farooqui, Ruth M Fischer, Karin Nowikovsky, Wulf Haubensak, Iain D Couzin, Kristin Tessmar-Raible, Andrew D Straw: Virtual reality for freely moving animals. In: Nature Methods. DOI: 10.1038/nmeth.4399

Faktenübersicht:

  • Beteiligte Forschungsteams: Dr. Prof. Dr. Iain Couzin, Universität Konstanz und Max-Planck-Institut für Ornithologie; Prof. Dr. Andrew Straw, Universität Freiburg; Prof. Dr. Kristin Tessmar-Raible, Max F. Perutz Laboratories, Wien (Österreich); Dr. Wulf Haubensak, Institut für Molekulare Pathologie Wien (Österreich); Prof. Dr. Karin Nowikovsk, Medizinische Universität Wien (Österreich)
  • Finanzielle Unterstützung erhielten Prof. Dr. Iain Couzin und sein Forschungsteam von: National Science Foundation (NSF), Office of Naval Research (ONR), Army Research Office (ARO), Max-Planck-Institut (MPI) für Ornithologie sowie Universität Konstanz
  • Veröffentlicht in Nature Methods, August 2017.

Hinweis an die Redaktionen:

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