Das Rätsel um Phosphit – eine wissenschaftliche Detektivgeschichte

Konstanzer Biologen stoßen auf einen bakteriellen Stoffwechsel auf Phosphorbasis, der neu und zugleich uralt ist. In einer besonderen Rolle: eine Berechnung aus den 80er-Jahren, eine Kläranlage, ein neuer bakterieller Organismus – und ein Überbleibsel von vor etwa 2,5 Milliarden Jahren.

Unsere Geschichte beginnt mit einem Blatt Papier, Ende der 1980er-Jahre. Auf diesem Blatt Papier errechnete ein Wissenschaftler, dass durch die Umwandlung der chemischen Verbindung Phosphit zu Phosphat genügend Energie  freigesetzt werden müsste, um den Energieträger der Zelle – das Molekül ATP – zu bilden. Es müsste also möglich sein, dass ein Mikroorganismus sich auf diese Weise mit Energie versorgt. Anders als die meisten Lebewesen auf unserem  Planeten wäre dieser Organismus nicht auf eine Energiezufuhr durch Licht oder aus der Zersetzung organischer Stoffe angewiesen.

Tatsächlich konnte der Wissenschaftler einen solchen Mikroorganismus aus der Umwelt isolieren. Sein Energiestoffwechsel basiert auf der Oxidation von Phosphit zu Phosphat – genau wie anhand der Berechnung vorhergesagt. Nur: wie  genau läuft der biochemische Mechanismus ab? Bedauerlicherweise blieb das notwendige Schlüsselenzym, um die Biochemie hinter dem Vorgang zu verstehen, verborgen – und das Rätsel blieb lange Jahre ungelöst. In den folgenden drei Jahrzehnten blieb es daher bei dem Zettel in der Schublade; der Forschungsansatz wurde eher beiläufig weiterverfolgt. Die Überlegung ging dem Wissenschaftler aber nicht aus dem Kopf.

Der Wissenschaftler ist Bernhard Schink, Professor am Limnologischen Institut der Universität Konstanz. Drei Jahrzehnte, nachdem er die Berechnung auf dem Papier anstellte, bringt ein unerwarteter Fund den Stein von Neuem ins Rollen …

Eine Kläranlage, ein unerwarteter Fund und eine neue Spezies
Was viele Jahre im Hinterkopf schlummerte, wurde 2021 schließlich gefunden: ausgerechnet in einer Kläranlage in Konstanz, nur wenige Kilometer von Bernhard Schinks Labor entfernt. Der Konstanzer Biologie-Doktorand Zhuqing Mao untersuchte eine Klärschlammprobe und stieß darin auf einen zweiten Mikroorganismus, der seine Energie ebenfalls aus Phosphit bezieht. Die Konstanzer Biologen um Bernhard Schink setzten dieses Bakterium in eine Umgebung, in der es ausschließlich Phosphit als Nahrungsquelle hat. Und tatsächlich: die Bakterienpopulation wuchs.

„Dieses Bakterium lebt von der Oxidation des Phosphits, und soweit wir wissen sogar ausschließlich von dieser Reaktion. Es deckt damit seinen Energiestoffwechsel ab und kann zugleich aus CO2 seine Zellsubstanz aufbauen“, schildert Schink. „Dieses Bakterium ist ein autotropher Organismus, wie eine Pflanze. Es braucht aber kein Licht wie eine Pflanze, sondern bezieht seine Energie aus der Phosphit-Oxidation.“ Überraschenderweise stellte sich heraus: Das Bakterium ist nicht nur eine neue Spezies, sondern bildet sogar eine gänzlich neue Gattung an Bakterien.

Dem biochemischen Mechanismus auf der Spur
Von da an ging es Schlag auf Schlag. Ein ganzes Netzwerk an Konstanzer Forschenden widmete sich der Ergründung des Rätsels: darunter Bernhard Schink, Nicolai Müller, David Schleheck, Jennifer Fleming und Olga Mayans. Sie fertigten  eine Reinkultur dieses neuen Bakterienstamms an und konnten darin schlussendlich das Schlüsselenzym identifizieren, das die Oxidation von Phosphit zu Phosphat in Gang setzt.

„Der Knoten ist geplatzt durch Nicolai Müller und seine Enzymexperimente“, schildert David Schleheck. Nicolai Müller gelang es, die Enzymaktivität eindeutig nachzuweisen und dadurch dem biochemischen Mechanismus rund um das Schlüsselenzym auf die Spur zu kommen. Olga Mayans und Jennifer Fleming erstellten ein dreidimensionales Modell seiner Enzymstruktur und seines aktiven Zentrums, um den Reaktionsweg nachzuvollziehen.

„Sehr überraschend war dabei, dass das Phosphit bei seiner Oxidation offenbar direkt an die Energieträger-Vorstufe AMP gekoppelt wird, wobei der Energieträger ADP entsteht. In einer Folgereaktion werden aus zwei der gebildeten ADP ein ATP hergestellt, von dem der Organismus schließlich lebt“, skizziert Nicolai Müller den Reaktionsweg.

Schließlich lag alles auf dem Tisch: Dem Blatt Papier von damals gesellte sich ein ganzer Stapel an Papieren hinzu, die in einer Publikation in der Fachzeitschrift PNAS mündeten.

Ein Überbleibsel von vor 2,5 Milliarden Jahren
Eine neue Art des Energiestoffwechsels nachzuweisen ist an sich schon ein großer wissenschaftlicher Erfolg. Doch wie das Forschungsteam annimmt, ist diese Art des Stoffwechsels keineswegs neu entstanden, sondern sehr alt, ja sogar uralt: rund 2,5 Milliarden Jahre alt.

„Es wird angenommen, dass Phosphor in der Frühzeit der Evolution, als die Erde sich abkühlte, durchaus noch in größerem Umfang in partiell reduzierter Form vorlag und erst dann allmählich oxidiert wurde. Deshalb passt dieser Stoffwechsel, den wir nun neu gefunden haben, sehr gut in die frühe Phase der Evolution von Mikroorganismen“, führt Bernhard Schink aus.

Der biochemische Mechanismus, den das Bakterium für seinen Stoffwechsel nutzt, ist also nicht neu entstanden, sondern hat sich mit hoher Wahrscheinlichkeit aus den Urzeiten unseres Planeten erhalten: damals, als das Leben auf unserem Planeten seinen Anfang nahm und die ersten Mikroorganismen sich aus anorganischen Verbindungen wie Phosphit speisen mussten. So geben die neuen wissenschaftlichen Befunde zugleich Hinweise auf die frühe biochemische Evolution auf unserem Planeten. Sie entschlüsseln ferner einen biochemischen Mechanismus, der Leben an sehr lebensfeindlichen Orten möglich macht, möglicherweise sogar auf fremden Planeten.

Wer hätte Ende der 1980er-Jahre gedacht, dass ein Blatt Papier all dies in Gang setzen würde …

Faktenübersicht:

  • ­­Originalpublikation: Zhuqing Mao, Jennifer Fleming, Olga Mayans, Jasmin Frey, David Schleheck, Bernhard Schink, Nicolai Müller, AMP-Dependent Phosphite Dehydrogenase (ApdA), a Phosphorylating Enzyme in Dissimilatory Phosphite Oxidation, PNAS Vol. 120 | No. 45, November 3, 2023
    DOI: doi.org/10.1073/pnas.2309743120
  • Die Forschung wurde gefördert durch: Deutscher Akademischer Austauschdienst (DAAD; an Zhuqing Mao), Konstanz Research School Chemical Biology (KoRS-CB), Universität Konstanz.